Molinaseca - Etappe 4
Dienstag, 18. September
Heute Morgen geht es früh los. 5 Uhr bin ich wach. Von 18 Leuten in meinem Schlafsaal haben mindestens 17 geschnarcht. Selbst meine geliebten Ohropax konnten da nicht mehr viel ausrichten. Aber ich bin wie immer munter und nach ein wenig Dehnen und Strecken der Füße stehe ich pünktlich 6 Uhr auf. Zur Abwechslung habe ich dann auch mal gut gefrühstückt. Brot, Cornflakes mit heißer Milch und Naturjoghurt, lecker.
7.15 Uhr mache ich mich auf den Weg. Jan und Kirstin kommen jetzt erst zum Frühstück. Die zwei werden mich schnell einholen, also marschiere ich los. Ich schließe mich bald einer französischen Pilgergruppe an und leuchte mit meiner kleinen rosa Taschenlampe den Weg. Ja, sie ist wirklich rosa, doch ohne sie ist es beinahe unmöglich, sicheren Fußes voranzukommen. Wir befinden uns hier schließlich auf einem Berg und da gibt es keine Laternen.
Am Cruz de Ferro lege ich meinen Stein samt Kette ab, sage den Spruch auf und mache das typische Erinnerungsfoto. Ein bisschen Tourist ist man wahrscheinlich immer irgendwie. Ich verweile einen Moment und so holen mich dann auch Jan und Kirstin wieder ein. Der Aufstieg im Anschluss ist sehr spannend. Das Klettern und Steigen fällt mir leicht und ich halte gut mit den beiden mit. Eine wunderschöne Landschaft wie in den Alpen umhüllt uns. Innerlich wachsen in mir der Wunsch und der Ehrgeiz, es heute auch bis nach Ponferrada zu schaffen. Dann würde ich weit über mein eigentliches Etappenziel hinauskommen. Ich freue mich schon richtig, denn wir kommen gut voran. Wäre es nicht großartig, schon viel früher das geplante Ziel zu erreichen? Dann könnte ich es mir in Santiago de Compostela richtig gemütlich machen und würde dann nicht sogar Finisterre in greifbare Nähe rücken? Zumindest in meinen Gedanken sehe ich mich bereits am Strand vom Ende der Welt die Füße in den Sand stecken. Doch man soll den Tag nicht vor dem Abend loben...
Am Gipfel machen wir eine kurze Verschnaufpause. Dann kommt der Abstieg. Hilfe! So steil und halsbrecherisch – wo stand denn das im Reiseführer?
Ich warte nur darauf, dass die ersten Knochen brechen. Kein Wanderstock zur Hilfe und aus Geiz nur lächerliche Turnschuhe an den Füßen. Das würde mir jetzt zum Verhängnis werden. Davon kann ich nur abraten. Etwas Gefährlicheres kann man in den Bergen kaum machen. Ich empfehle dringendst, im Vorfeld gute, zuverlässige Wanderstiefel zu besorgen, auch wenn das dann aussieht, als hätte man unförmige Elefantenfüße.
Bei jedem Schritt überkommen mich Angst und Zweifel. Vielleicht hätte ich etwas mehr planen sollen. Zu naiv darf man an so eine Reise wohl doch nicht herangehen. Wie kam ich überhaupt auf diese Schnapsidee zu pilgern? Das kann doch nicht auf meinem Mist gewachsen sein. Wie kommt überhaupt jemand auf die Idee, so etwas zu machen? Wer hat Spaß an sowas? Ich für meinen Teil hasse jeden Schritt, denn jeder davon könnte mein letzter sein. Es ist bergig, es ist steinig, überall Geröll und dazwischen fiese Felsspalten. Der Weg ist unglaublich schmal und an einer Seite geht es einfach nur bergab in die Tiefe.
Ich bin völlig fertig und bis zur nächsten Stadt Molinaseca sind es noch ewige acht Kilometer auf dieser Horrorstrecke. Bis Ponferrada wären es sogar noch weitere acht, also insgesamt 16 lange Kilometer bis zum Ziel. Jan und Kirstin scheint das alles nichts auszumachen. Sie sind längst hinter der nächsten Biegung verschwunden, unmöglich, mit ihnen mitzuhalten oder sie wieder einzuholen.
Ich kann nicht mehr und ich habe schon wieder großen Hunger. Doch leider ist mir inzwischen das Bargeld ausgegangen und zu meinem Entsetzen teilt mir mein Reiseführer auch noch mit, dass es in Molinaseca keinen Geldautomaten gibt. Also muss ich nun, ob ich will oder nicht, bis nach Ponferrada kommen, denn erst dort würde es Geld für die Herberge und was zum Essen geben.
Ich verzweifle, viele Pilger ziehen an mir vorbei und ich krieche nur so dahin, den Blick fest auf den steinigen Boden gerichtet. Ein falscher Schritt und die Reise findet hier ihr frühes Ende. Dann ein Ortsschild, bis Molinaseca sind es noch fünf Kilometer. Also noch 13 Kilometer bis zum Ziel. Oh nein! Ich sterbe. Mitten im Gebirge. Ich wollte doch nur ein bisschen wandern. Wer hatte denn was von Gebirge gesagt? Über Wiesen und Felder wollte ich streifen und nicht einen Berghang hinab. Wer macht denn sowas?
Ein uralter Mann läuft, nein, er hüpft wie eine Bergziege an mir vorbei. Mit so einer Leichtigkeit die Abhänge herunterzukommen, kann nur ein Wunder sein. Ich sehe ihm nach und stakse langsam hinterher. Meine Knöchel finden das alles überhaupt nicht lustig und die Angst vor dem Abrutschen oder Umknicken wächst beinahe zur Panik aus. Ich gebe auf. Ich bin eine Schnecke und keine Bergziege und Schnecken haben im Gebirge absolut nichts verloren. Also setze ich mich trotzig auf einen Felsen und bin ein kleines Kind, dass möglichst schnell aus dem Spieleparadies abgeholt werden möchte.
Wie ich vom Berg wieder heruntergekommen bin, erfahrt ihr im kompletten Buch. Ich hoffe, euch hat die Leseprobe gefallen und ihr seid nach wie vor hochmotiviert, es mit dem Camino aufzunehmen.
Das ganze Buch als E-Book oder Taschenbuch